Lockdown – ein Reflex in der Not
Als die Covid-19-Epidemie Europa erreichte, hatte ich in internen Vorträgen, basierend auf den Berichten zur Spanischen Grippe, immer wieder betont, wie wichtig ein rasches, entschlossenes Handeln der Staaten sei. Ich begrüsste das entschlossene Handeln des Bundesrats Mitte März: Der Lockdown sollte uns nach dem Beispiel der Spanischen Grippe vor grösseren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen bewahren.
Doch als wissenschaftlich interessierter Arzt hatte ich natürlich immer auch Zweifel an meiner «Sicherheit». Corona ist ja nicht Influenza. Gewohnt, jede Hypothese zu hinterfragen, mussten wir die Möglichkeit offenhalten, dass sich die Entscheidung auch als falsch erweisen könnte. Denn das wissenschaftliche Denken lehrt uns, dass es genau die Fehler sind, die uns letztendlich weiterbringen. Daher müssen wir aufmerksam und kritisch bleiben, um allfällige Fehler rasch zu erkennen und daraus bessere Handlungen abzuleiten.
Erste Zweifel schon früh aufgetaucht
Eine interessante Beobachtung erfolgte nach der kontinuierlichen Erfassung der Reproduktionsraten durch die ETH Zürich (s. unser Bericht): Die Autoren wollten aus dem frühen Abfall der Reproduktionsraten – bereits vor dem Lockdown – auf keinen Fall den Schluss ziehen, dass der Lockdown nicht gerechtfertigt war. Sicher, das wäre unseriös gewesen. Doch man muss den Zweifeln nachgehen, insbesondere, da andere Länder dieselbe Beobachtung machten.
Kritische Überprüfung hegt Zweifel an Lockdown Wirksamkeit
Drei Ökonomen aus den USA (A. Atkeson, K. Kopecky, T. Zha) aus dem National Bureau of Economic Research haben die Frage der Wirksamkeit von Lockdown Massnahmen basierend auf den Erfahrungen von 48 Staaten untersucht (Atkeson et al, 26.8.20). Dabei sind sie der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Ausbreitung der Epidemie in den Staaten mit unterschiedlich aggressivem Vorgehen unterscheiden. Dabei haben sie sich grundsätzlich auf zwei wichtige Parameter abgestützt: tägliche Todesfallzahlen und die Entwicklung der Reproduktionsrate (durchschnittliche Anzahl Neuinfektionen, die von einer Person ausgehen) über die Zeit.
Eingeschlossen wurden die Länder mit mehr als 1000 Todesfällen vom Zeitpunkt an, als 25 Personen in einem Land (oder US-Staat) an Covid-19 gestorben sind und die Beobachtung endete Ende Juli. Die Autoren haben sich auch die Mühe genommen und verschiedene Methoden zur Bestimmung der effektiven Reproduktionsrate (Reff) eingesetzt und sie haben auch verschiedene Methoden eingesetzt, um die Tagesschwankungen bei den Todeszahlen zu kompensieren.
Mit diesen einfachen, aber systematisch ausgewerteten Beobachtungen kommen die Autoren auf eindrückliche Schlussfolgerungen:
- Die Ausbreitung der Epidemie ist in allen Ländern mehr oder weniger uniform
- Nach einem kurzen exponentiellen Anstieg der Todeszahlen folgt ein Abfall der Todesfälle innert rund einem Monat auf sehr tiefe Werte (in allen Ländern!)
- Die Unterschiede des Abfalls der Fallzahlen zwischen den Ländern (Standard Abweichung) nach den ersten 10 Tagen der Epidemie sind überraschend klein.
- Nach dem Abfall der epidemischen Kurve sind die Todeszahlen nicht mehr angestiegen, auch wenn die «Lockdown»-Massnahmen in zahlreichen Staaten massiv gelockert wurden.
- In der Zeit nach einem Monat (nach Beginn der Ausbreitung) war die Reproduktionsrate in allen Staaten einheitlich tief und blieb auf diesen tiefen Werten.
Die unten stehende Abbildung zeigt die Anstiegsrate der Todesfälle (linke Achse). In allen Staaten fällt der Anstieg der Todesfälle (Mittelwert, schwarze Linie) bereits nach rund 30 Tagen gegen Null ab. Dies entspricht einer Reff von 1 (Skala rechts). Was die Autoren hervorheben ist das enge Konfidenzintervall nach den ersten Wochen mit grosser Streubreite. Mit anderen Worten: Auch wenn die Ausgestaltung der Präventionsmassnahmen in den untersuchten Ländern sehr unterschiedlich war, am Ende waren die Reff-Werte nach der ersten Welle in allen Ländern recht ähnlich. Dies lässt vermuten, dass die Wahl der Massnahmen wirklich eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte.