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Balgach
22.03.2021

Steuersenkungen oder lost in (corona) paradise?

Dr. Karin Hasler: «Hinter den Türen versteckt sich Einsamkeit»
Dr. Karin Hasler: «Hinter den Türen versteckt sich Einsamkeit» Bild: zVg
Steuersenkungen, Gemeindedemokratie und der Kanton St.Gallen, was haben sie alle gemeinsam? Es ist ganz einfach, sie tendieren zum Minimum in beinahe allen Belangen. Was hat das zur Folge? Ein Gastkommentar von Dr. Karin Hasler.

Im St.Galler Rheintal gibt es 5 (von 13) Gemeinden, die einen Steuerfuss von weit unter 100 Prozentpunkten haben: Balgach, Widnau, Au, Diepoldsau, und Berneck. Damit gehören sie zu den steuergünstigsten im Kanton, allen voraus Balgach mit bald rekordtiefen 67%! Balgach hat zwar ein Hallenbad, aber weder einen anständigen Spielplatz oder Dorfplatz, keine Biotope, keine öffentliche Spielgruppe, Flüchtlingskinder dürfen nicht in die Kita, E-Bikewege werden nicht markiert, der Bodenpreis ist extrem hoch, Eigentumswohnungen überteuert.

Weder Gewässerschutz noch richtiges Glasfasernetz

Balgach kennt keine Biodiversitätsinseln, vernachlässigt den Gewässerschutz, hat kein richtiges Glasfasernetz, kein Konzept zur Frühen Förderung und hat ausser Lebensmittelläden keine Geschäfte mehr. Aber die Strassen werden erneuert und wöchentlich geputzt, und der Hochwasserschutz geplant. Ach ja, und es gibt einen Skaterpark hinter Gittern.

So schaut ein Quartierbach in der Nacht in Balgach aus... da hat jemand wohl Chemikalien entsorgt. Bild: zVg

Sie dürfen nun selbst entscheiden, ob Sie in Zukunft in einer solchen Gemeinde wohnen möchten. Denn: Was wird wichtig sein in Zukunft? Falls uns die Globalisierung weiterhin mit Pandemien heimsucht, wäre es zumindest hilfreich, wenn es Einkaufsmöglichkeiten im Dorf gäbe, wenn es Bewegungsräume gäbe und mehrere Spielplätze. Nicht jeder hat einen Pool und einen riesigen Garten. Wenn ältere Menschen und jüngere Menschen draussen Begegnungsplätze hätten, wenn Kinder mit Förderbedarf diese Förderung im Dorf bekämen und vor allem wenn der Natur- und Umweltschutz ernst genommen würde, wenn das Dorf wieder Leben bekäme, ja dann hätte ich ein besseres Gefühl für die Zukunft.

Auf lokale Infrastruktur angewiesen

Die Coronazeit hat gezeigt und zeigt immer noch, dass es Situationen gibt, in welchen wir auf lokale Infrastruktur angewiesen sind. Sie hat auch gezeigt, dass die Einkommens- und Armutsschere weiter auseinander geht. Sie zeigt mehr denn je, dass es den Jugendlichen schlecht geht und dass viele Menschen in Einsamkeit leben müssen, weil es im Dorf keine Begegnungsmöglichkeiten gibt und der Schritt in einen Bus riskant ist. Das Dorf hätte vielen Menschen helfen können, Solidarität zu spüren. Aber hinter den Türen versteckt sich Einsamkeit.

Steuersenkungen sind auch sonst der Solidarität nicht dienlich und nicht fair den anderen Gemeinden gegenüber. Werden die Steuern systematisch gesenkt, wie in Balgach, werden damit Gutverdienende angezogen. Das erhöht unter anderem die Boden- und Mietpreise. Dies wiederum vertreibt wenig Verdienende, Bildungsferne, Alleinerziehende, betagte Menschen, Migranten und Flüchtlinge. Die Gemeinde macht keinen Hehl daraus, es ist klar, was sie will. Die Folge ist ein mörderischer Wettbewerb zwischen reichen und armen Gemeinden, der nur Verlierer hinterlässt. Gewinner gibt es keine, denn das Leben entsteht dort, wo es Vielfalt, Integration und Solidarität gibt. Steuereinnahmen sind wichtig für Bildung, soziale Wohlfahrt, Naturschutz, Frühe Förderung, Integration, öffentliche Infrastruktur, Dorfplätze, Kunst und Kultur.

Diktatur der Gemeindepräsidenten

Aber dieser Wettkampf zwischen reichen und armen Gemeinden geht weiter. Auch im Kantonsrat gibt es keine Interessen für einen besseren Ausgleich, denn ein beachtlicher Anteil der Kantonsräte ist ja Gemeindepräsident und vertritt dort nur seine Interessen. Das haben die letzten Sessionen gezeigt. Dies ist mitunter der Grund, warum sich der Kanton St.Gallen nicht vorwärtsbewegt. Das Steuerspiel wird auch kantonal gespielt: die rechtsbürgerliche Mehrheit bringt Sparpakete durch und beschenkt nachher die Reichen mit Steuersenkungen.

Das hat nichts mit Solidarität zu tun. Es schadet allen, weil so die Schere zwischen Arm und Reich und armen und reichen Gemeinden noch weiter auseinander geht. Das desintegriert die gesamte Gesellschaft und schafft schlechte Voraussetzungen für soziale Mobilität, Integration, Demokratie und Pluralismus. Die Pandemie verstärkt diesen Prozess. Am meisten aber bestärkt es die Diktatur der Gemeindepräsidenten.

Mit Steuergeschenken den Reichen helfen

Natürlich freuen sich die meisten über (noch) tiefere Steuern. Aber seien wir ehrlich, wir wissen auch, dass die meisten Leute bestenfalls zum Mittelstand gehören und mit Steuergeschenken hauptsächlich den Reichen geholfen wird.  Und reiche Menschen brauchen keine vielfältige öffentliche Infrastruktur, sie können sie nämlich selbst kaufen.

Wo ist also die Grenze von ethisch vertretbaren minimalen Gemeindesteuern? Sollte es für Gemeinden einen Minimal-Standard geben? Stellen Sie sich vor, Pandemien würden wie Hochwasserschutz zum Standard gehören, in einer Zeit, in der die Landwirtschaft die Umwelt um uns zerstört. Und wir nirgends hinkönnen, als im Dorf zu bleiben. Sind wir dann «lost in paradise»?

Dr. Karin Hasler ist Politologin, Kantonsrätin und Präsidentin der SP Rheintal. Sie ist selbständige Sozialwissenschaftlerin und betreibt als Lektorin und Wissenschaftscoach die website www.prolix.ch.

Kantonsrätin Dr. Karin Hasler, Politologin, Präsidentin SP Rheintal