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Gesundheit
09.02.2021
09.02.2021 15:14 Uhr

Spanische Grippe und Corona: zwei Krankheiten, gleiches Rezept

Während der Spanischen Grippe herrschte auch im Burgerspital Bern ein Ausnahmezustand. Der Kanton Bern war vom aggressiven Grippevirus besonders betroffen.
Während der Spanischen Grippe herrschte auch im Burgerspital Bern ein Ausnahmezustand. Der Kanton Bern war vom aggressiven Grippevirus besonders betroffen. Bild: Burgerbibliothek Bern
Zögerliches Handeln, zu frühe Lockerungen und ignorierte Einschränkungen: Die Muster bei der Bewältigung der Spanischen Grippe haben frappierende Ähnlichkeiten mit derjenigen der Corona-Pandemie. Auch im Rheintal.

In den Jahren 1918 und 1919 wütete die spanische Grippe weltweit und tötete in der Schweiz gemäss historischen Quellen 24’447 Menschen. Besonders die lange andauernde zweite Welle forderte viele Opfer.

«Es ist beeindruckend, wie sich beim Vorgehen der Regierung und der Behörden während den Pandemien 1918 und 2020 immer grössere Ähnlichkeiten abzeichnen», sagte der Historiker Kaspar Staub von der Universität Zürich im Gespräch mit Keystone-SDA.

Natürlich gebe es auch wichtige Unterschiede zur Corona-Pandemie: Heute sei es ein anderes Virus, die Lebensumstände andere, die Fachwelt vernetzter und das medizinische Wissen grösser.

Die Spanische Grippe im Rheintal

Solothurner Grenzschutztruppen schleppten die spanische Grippe im Sommer 1918 in Rüthi und Oberriet ein. Bald traten auch in Altstätten und den übrigen Gemeinden des Rheintals Fälle auf. Die damals getroffenen Massnahmen zur Eindämmung der Epidemie waren die Gleichen wie heute in Corona-Zeiten: Schulferien wurden verlängert, Kilbis und andere Veranstaltungen abgesagt, die Kirchen geschlossen und die Bundesfeiern fanden nicht statt.

Historische Quellen erzählen von einer schrecklichen Zeit. Im August erkrankten alleine im Rheintal 1´850 Menschen an der Spanischen Grippe. 173 Personen starben daran. Genau wie bei der Coronapandemie waren Wellenbewegungen zu beobachten. Denn im September schien die Grippeepidemie bereits wieder abzuklingen. Nur um bereits im Oktober weit schwerer zurückzukehren.

Der grosse Infektionstreiber war damals der grosse «Landesstreik» mit grossen Demonstrationen und Volksversammlungen. In sämtlichen Rheintaler Gemeinden wütete das Virus und Gevatter Tod hielt reiche Ernte. Im gesamten Kanton St.Gallen wurden von Beginn bis zum Ende der Grippeepidemie etwa Ende Januar 2019 66´450 Erkrankungen mit 1´100 Todesfällen registriert. Weltweit warens etwa 50 Millionen Todesopfer dieses Grippevirus zu beklagen.

Zu frühe Aufhebung der Einschränkungen

Das schweizerisch-kanadische Forscherteam um Historiker Kaspar Staub hat  im Magazin «Annals of Internal Medicine» das Geschehen im Kanton Bern während der Spanischen Grippe nach, wo das Virus besonders stark wütete, und dabei erstaunliche Parallelen im Verhalten der Behörden festgestellt.

Zu Beginn der ersten Welle reagierte der Kanton Bern rasch und zentral. Er schränkte Versammlungen ein, schloss Theater, Kinos sowie Schulen und verbot Chorproben. Die Ansteckungen gingen zurück, worauf sämtliche Einschränkungen wieder aufgehoben wurden. Viel zu früh: Die viel schlimmere Herbstwelle rollte an.

Angst vor wirtschaftlichen Konsequenzen

Das Fatale: Der Kanton legte zu Beginn der zweiten Welle die Verantwortung den einzelnen Gemeinden in die Hände. Kommt uns doch bekannt vor. Vor der zweiten Coronawelle wurde das Problem vom Bund in die Kantone delegiwert. «Dieses dezentrale Reagieren aus Angst vor erneuten Einschränkungen und ihren wirtschaftlichen Konsequenzen hat aber nicht funktioniert», sagte Staub. Erst einige Wochen später erliess die kantonale Regierung wieder strengere zentrale Massnahmen - die Pandemie klang etwas ab.

Doch die zweite Grippewelle hielt die Bevölkerung weiterhin fest im Griff. So kam es im November 1918 bei immer noch hohen Fallzahlen zu Konflikten zwischen Regierung und Arbeiterschaft, die im Landesstreik und in Massenansammlungen mündeten. Auch Truppenzusammenzüge in die zentralen Ortschaften trieben die Übertragungen wieder in die Höhe.

Infolge des Landesstreiks widersetzten sich viele Leute den Versammlungseinschränkungen, die daraufhin aufgrund politischen und öffentlichen Drucks wiederum gelockert wurden. "Wir sehen, dass diese Geschehnisse mit einem deutlichen Wiederanstieg der Fallzahlen assoziiert waren und die zweite Welle damit umso länger dauerte", sagte Staub. Eine ähnliche Entwicklung befürchte man nun wegen den Coronavirus-Mutationen. Diesmal sind es ausgerechnet die Coronaleugner und Massnahmenskeptiker, die mit ihren Protestversammlungen und ihrem rücksichtslosen Verhalten die Fallzahlen in die Höhe treiben.

Ein Ende kommt bestimmt

Die Studie zeige, dass die Schweiz aus ihrer Geschichte hätte lernen können, sagte der Mitautor und Berner Epidemiologe Peter Jüni von der kanadischen Universität Toronto. «Aus meiner Aussenperspektive ist es schwer nachvollziehbar, dass in einem wohlorganisierten, hochentwickelten und privilegierten Land wie der Schweiz jeder tausendste Mensch an Covid-19 verstorben und jeder dreihundertste hospitalisiert worden ist.»

Der historische Blick offenbart aber auch etwas Hoffnungsvolles: Im Frühjahr 1919 bäumte sich die Spanische Grippe zwar nochmals zu einer relativen milden, dritten Welle auf, danach verschwand sie. «Die akuten Phasen von Pandemien gehen irgendwann einmal auch wieder vorüber», sagte Staub. Und noch etwas gibt der Menschheit heute grosse Hoffnung: Vor einhundert Jahren waren Grippeimpfungen noch eine Zukunftsvision.

Mehrere gut wirksame Impfstoffe

Gegen den Covid-19-Virus wurde von der heutigen Wissenschaft in Rekordzeit gleich mehrere gut wirksame Impfstoffe entwickelt, Produktionsstrassen hochgezogen und die Impfung organisiert. Ein reiches, hochentwickeltes Land wie die Schweiz sollte es bei allen Pleiten, Pech und Pannen schaffen, bis Ende Sommer alle Impfwilligen mit Vakzinen zu versorgen. Spätestens dann wird Corona von Pandemie zur Endemie zurückzustufen sein.

Ein Truppenarzt untersucht während des Ersten Weltkrieges Schweizer Armeeangehörige in einem Krankenzimmer. Die eigentliche Bewährungsprobe der Truppensanität kam mit der Epidemie der Spanischen Grippe. Bild: Keystone

So war es in St.Gallen

Im Kanton St.Gallen traten die ersten Fälle im Jahr 1918 in der zweiten Hälfte Mai auf, wie die Sanitätskommission im Jahresbericht schreibt. Es gab Übereinstimmungen mit der Influenza von 1889 bis 1890.

Mit dem Bundesbeschluss vom 19. November 1918 wurden den Kantonen für Massnahmen gegen die Epidemie Bundesbeiträge von 50 Prozent zur Deckung der Kosten zugesichert. Dies betraf beispielsweise die Einrichtung und den Betrieb von Notspitälern, Anstellung von Pflegepersonal usw. Ausserdem sollten aufgrund der Schliessungen oder dem Verbot von Veranstaltungen den Unternehmen beziehungsweise sonstigen Personen Entschädigungen gezahlt werden. 

20'218 Fälle in der Stadt

In der Stadt St.Gallen wurden 20'218 Krankheitsfälle registriert, wovon 1'505 an einer Lungenentzündung erkrankten. Sie trat auf, wenn Grippeviren die Lunge schwächten und das Immunsystem schädigten. Die eingedrungenen Bakterien konnten bei schlechtem Verlauf innerhalb von ein paar Tagen zum Tod des Erkrankten führen. Die mangelnde Ernährung während der Kriegszeit (Erster Weltkrieg) und kalte Witterung konnten die Bedingungen verschlechtern.

Aufgrund der Wettersituation nahm die erste Grippewelle im Sommer 1918 einen weniger folgenreichen Verlauf als jene im Herbst 1918 - die Teilnahme Vieler am Generalstreik und die Einberufung des Militärs verstärkten zusätzlich einen Anstieg der Grippefälle. Die Meldungen von erkrankten Personen gingen im Dezember 1918 zurück und im April 1919 galt die Spanische Grippe in St.Gallen als besiegt.

sda/gmh
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