Um das Ergebnis der Diskussion namhafter Wirtschaftsvertreter und Politiker aus der Schweiz und Österreich gleich vorwegzunehmen: Die Politiker sollen endlich ihren Job machen! Oder wie es Ständerat Benedikt Würth am treffendsten ausdrückte: «Wie bringen wir unsere Regierung zum Regieren?»
«Ihr seid anderen Geistes!»
Einseitiger Abbruch der Gespräche
Der AGV Rheintal, der Rheintal Unternehmertreff, die Industriellenvereinigung Vorarlbergs und das Aktionsbündnis «Wir sind Europa» hatten in die Räumlichkeiten der SFS in Heerbrugg eingeladen. Um die Probleme, Folgen und die weiteren Vorgangsweisen zu diskutieren, die sich aus dem einseitigen Abbruch der Gespräche um das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union durch den Bundesrat ergeben haben.
Denn eines ist klar: für die florierende Wirtschaft beidseits des Rheins mit ihren engen Beziehungen und Verflechtungen und für die beiden Wirtschaftsräume Schweiz und Österreich mit ihrem grossen Warenaustausch ist es äusserst schädlich, wenn die bestehenden bilateralen Abkommen zum gemeinsamen Markt nicht mehr dynamisch angepasst werden. Wenn es keine Transformation des europäischen Handelsrechts in Schweizer Recht geben wird. Oder wenn künftig etwa Schweizer Zertifikate in Europa keine Anerkennungen mehr finden.
Am meisten vom Beitritt profitiert
«In Vorarlberg würden Sie wohl kaum jemanden finden, der aus der EU austreten will», stellte Industriellenvereinigungs-Präsident Martin Ohneberg fest, «unser Land hat nach einer Studie der Stiftung Bertelsmann österreichweit am meisten vom Beitritt profitiert. Wir sind Bestandteil der Modellregion Bodensee mit dem wichtigen Wirtschaftspartner Schweiz. Unser Raum ist prädestiniert für eine noch engere Zusammenarbeit.»
Wie bedeutend die Zusammenarbeit zwischen Vorarlberg und dem St.Galler Rheintal ist, machte Claude Stadler als Mitglied der SFS-Konzernleitung anhand einiger Daten fest. So kommen 20 Prozent der 2´500 Mitarbeiter in der Schweiz als Grenzgänger aus dem Ländle. Und weitere 20 Prozent sind Ausländer, die in der Schweiz wohnhaft sind. 40 Prozent aller Produkte des Unternehmens werden in die EU verkauft.
Grund des Scheiterns
Der vermeintliche Grund des Scheiterns der Verhandlungen wurde auch gestreift. «Schon Martin Luther hat vor Jahrhunderten dem Reformator Huldrych Zwingli entgegnet «Ihr seid anderen Geistes»». So brachte es Dr. Robert Müller vom Schweizer Arbeitgeberverband auf den Punkt.«In der Schweiz ist man sich nicht gewohnt, dass andere dreinreden können, dass Europäischer Gerichtshof oder die EU-Kommission Vorschriften machen könnten. Dass eine dynamische Rechtsübernahme stattfindet.» Mit anderen Worten ausgedrückt, ist die Schweiz in ihrer Struktur einer direkten Demokratie ganz einfach nicht EU-fähig.
Einig war sich diese Unternehmerrunde unter der Gesprächsleitung von Reini Frei darin, dass die bilateralen Verträge eigentlich den Königsweg darstellen. Was auch so bleiben soll. Und dafür müsse man Lösungen finden. Claude Stadler: «Planungsunsicherheit ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung!» Martin Ohneberg assistierte: «Die Unternehmerseite hat gemeinsam ein grosses Interesse an der Zusammenarbeit über den Rhein hinweg. Denn auf die Politik müssen wir zu lange warten.»
Erodieren der Vorschriften
Auf diese erste Podiumsdiskussion folgte ein Vortrag von Undine Zach-Palvelli von der Wirtschaftskammer Österreich, die im AussenwirtschaftsCenter in Zürich tätig ist. Sie behandelte die Frage, ob der derzeitige Stillstand der Verhandlungen zwischen EU und der Schweiz zu einem Erodieren der Vorschriften und Wirtschaftsbeziehungen führe, oder ob es sich nur um einen Sturm im Wasserglas handle. Denn schliesslich ist die derzeitige Situation unhaltbar: die geltenden bilateralen Verträge werden nicht aktualisiert und keine neuen Verträge abgeschlossen. Zach-Palvelli machte die Lage an der Medtech-Branche fest.
Dieser macht zu schaffen, dass Schweizer Zertifikate im EU-Ausland nicht mehr gelten. Die Steigerung des damit verbundenen administrativen Aufwands wird der Schweizer Medtech-Branche zusätzliche Kosten in Höhe von 1,4 Prozent des EU-Umsatzes aufbürden. Ein weiteres Beispiel für die negativen Folgen des Verhandlungsstillstandes: Schweizer Forscher dürfen beim Forschungsprogramm «Horizon» keine Projektleitungen mehr übernehmen. Und derzeit fehlt ein Stromabkommen mit der EU, das die Versorgungssicherheit der Schweiz für die Zukunft absichert. «Dynamische Entwicklungen treffen auf einen extrem pragmatischen Ansatz.»
Schweizzentrierte Politiker
In der abschliessenden Podiumsdiskussion kamen Vertreter aus der Politik beidseits des Rheins zu Wort. Und machten die Unterschiede in der Denkweise von europafreundlichen und schweizzentrierten Politikern deutlich. Auch die Unterschiede innerhalb der Schweizer Politik.
NR Mike Egger verwies darauf, dass schliesslich die 120 bilateralen Verträge nach wie vor in Kraft seien. «Das Rahmenabkommen war kein guter Weg, hätte die Rechtssicherheit in der Schweiz gefährdet und wäre mit dem Rechtsangleichungsmechanismus ein direkter Angriff auf die direkte Demokratie. Der Bundesrat hat mit dem Stopp der Verhandlungen weise entschieden.»
Bilateraler Weg wird erodieren
Mit dieser Ansicht war er in der Runde der Diskussionsteilnehmer aber alleine. Ständerat Benedikt Würth sah die Sache «nicht so entspannt». Es sei doch logisch, dass man bei internationalen Verträgen die nationale und internationale Gesetzgebung und Rechtssprechung regeln müsse. «Der bilaterale Weg wird erodieren. Was der Bundesrat gemacht hat, war ein Abbruch der Verhandlungen ohne Plan B. Jetzt will man innerhalb der Schweiz einen Konsens finden und erst 2024 wieder Gespräche mit der EU führen. Nichts anderes als ein hilfloser Versuch, sich über die Wahlen zu retten. Das kritisiere ich. Denn unsere Regierung muss jetzt liefern, da gibt es in Wahrheit kein Warten auf 2024!»
Claudia Gamon, Abgeordnete der NEOS im Europaparlament wies darauf hin, dass derzeit die EU auf eine Antwort aus der Schweiz warte, wie es denn weitergehen solle. Und wartet, und wartet und wartet. Es gehe ganz einfach nicht, über Jahre zu verhandeln und ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen, und dieses dann im letzten Moment wieder aufschnüren zu wollen. Und man müsse in der Schweiz berücksichtigen: "Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Erfolgs des Projekts EU. Der Europäische Gerichtshof bietet Sicherheit gegen jede Art der Willkür.»
Vertrauensbildende Massnahmen
Der österreichische Nationalrat Norbert Sieber, Mitglied der österreichisch-schweizerischen Freundschaftsgruppe der Parlamentarier, erzählte, der Verhandlungsabbruch durch die Schweiz sei für ihn ein Schock gewesen. «Aber wir müssen weiterkommen, vertrauensbildende Massnahmen mit beiderseitigem Verständnis setzen. Da ist es gut, dass die Schweiz als ersten Schritt jetzt die Kohäsionsmilliarde freigegeben hat. Es dürfen auf beiden Seiten keine Druckszenarien mehr entstehen.»
«Wir gewinnen nur mit nüchternem Kopf und heissem Herzen», zitierte Benedikt Würth den italienischen Starfussballer Giorgio Chiellini, «wir müssen eine ehrliche Diskussion führen, was wir eigentlich wollen.»