Kaum vorstellbar, dass Frauen in der Schweiz erst seit 50 Jahren stimmberechtigt sind: Am 7. Februar 1971 haben die Schweizer Männer an der Urne der Verfassungsänderung zugestimmt, dass künftig alle Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte wie sie haben sollen. 65,7 Prozent stimmten damals mit Ja, 34,2 mit Nein.
Nur rudimentär vorhandene Frauenrechte
Die 67-jährige in Marbach wohnhafte Autorin Jolanda Spirig hat sich in ihren Büchern immer wieder mit der Situation von Frauen in der Schweizer und insbesondere Rheintaler Gesellschaft beschäftigt. Insbesondere ihre lesenswerten Werke „Widerspenstig“ (Chronos, Zürich 2006), „Schürzennäherinnen“ (Chronos, Zürich 2012) und „Hinter dem Ladentisch“ (Chronos, Zürich 2020), und ihre Lesungen befassen sich mit dem Thema der früher in einer streng patriarchalischen Gesellschaft nur rudimentär vorhandenen Frauenrechte. Im Interview mit rheintal24 erklärt Jolanda Spirig, warum die Schweiz in Sachen Gleichstellung noch so einiges zu tun hat.
Frau Spirig, in wenigen Tagen gibt es das Frauenstimmrecht in der Schweiz seit 50 Jahren. Ein Grund zum Feiern?
Dass wir erst seit 50 Jahren eine richtige Demokratie sind und dass uns dieses selbstverständliche Grundrecht in der Schweiz so lange vorenthalten wurde, ist beschämend und nicht wirklich ein Grund zum Feiern. Ein Grund zur Rückschau und zur Reflexion sind diese 50 Jahre aber schon.
Können Sie sich erklären, warum es so lange gedauert hat?
Es gab in Bund und Kantonen seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Anläufe für das Frauenstimmrecht. 1918 verlangten zwei Motionen vom Bundesrat die Einführung des Frauenstimmrechts, aber der schubladisierte das Anliegen während 40 Jahren. Das traditionelle Rollenverständnis war zu stark, man traute den Frauen das logische Denken schlicht nicht zu. Anders als in den meisten umliegenden Ländern hatte in unserer direkten Demokratie das männliche Stimmvolk das letzte Wort. Eine zusätzliche Bremse: Bis 1971 wollte die Mehrzahl der Männer ihre Privilegien nicht abgeben.
Dass Frauen für ihre Rechte auf die Strasse gehen, ist heute noch so. Wie beispielsweise mit dem grossen Frauenstreik vor zwei Jahren. Wofür müssen Frauen heute kämpfen?
Für gleiche Löhne und gleiche Chancen – immer noch. Die jungen Frauen wollen unsere Gesellschaft gleichberechtigt mitgestalten und führen diesen Kampf auf lustvolle und kreative Weise weiter. Das freut mich sehr. Feminismus ist wieder im Trend.
Hat die Schweiz noch einiges in Sachen Gleichstellung zu tun?
Ja, der ganze Care-Bereich ist beispielsweise stark unterbewertet. Die Altersarmut ist weiblich. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist noch nicht überall gegeben. Frauen kommen aber auch in der Geschichtsschreibung kaum vor. Die meisten Museen zeigen Geschichte aus der Männerperspektive. Zahlreiche Museen geben dieses Jahr Gegensteuer. So auch das Museum Prestegg. Ich werde im Mai und im September für dieses Museum Rheintaler Frauenrundgänge in Altstätten, Rebstein und Widnau durchführen. Sie sind auf der Website des Museums aufgeführt. Man kann sich anmelden.
Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrem Leben, der Sie in Sachen Frauenrechte politisiert hat?
Ja, den gab es. 1982 lehnte die damalige Rheintaler Gemeindammänner-Konferenz finanzielle Beiträge ans Frauenhaus ab, weil sie das «Davonlaufen aus den Familien nicht unterstützen wollten». Gewalt in Beziehungen war damals Privatsache. Ich konnte es nicht fassen und schrieb einen offenen Brief an die Gemeindepräsidenten.
Feminismus wird in manchen Kreisen negativ und mit «Männerfeindlichkeit» assoziiert. Wie gehen Sie damit um? Fühlen Sie sich überhaupt als Feministin?
Natürlich! (lacht) Feminismus hat mit Gerechtigkeit zu tun, und nicht mit Männerfeindlichkeit. Fortschrittliche Männer teilen unsere Anliegen.