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Rebstein
05.02.2021
07.02.2021 14:44 Uhr

Mädchenbeschneidung – auch im Rheintal?

Die Genitalverstümmelung wird unter unhygienischen Bedingungen mit normalen Rasierklingen durchgeführt (Bild: tagesspiegel.de)
Die Genitalverstümmelung wird unter unhygienischen Bedingungen mit normalen Rasierklingen durchgeführt (Bild: tagesspiegel.de) Bild: haz.de
Man kann es kaum glauben – aber der unsägliche Brauch der Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen ist auch bei uns ein Thema. Die Fachstelle Integration Rheintal in Rebstein hat deshalb diese Woche ein Online-Kampagne lanciert.

Immer noch geschätzte 200 Millionen Mädchen und Frauen sind weltweit von der weiblichen Beschneidung betroffen. In den meisten Ländern ist die Genitalverstümmelung verboten. So natürlich auch in der Schweiz. Aber Traditionen und Normen sitzen tief. Dennoch lässt sich langsam ein Umdenken spüren. Oder wie die aus Somalia stammende Aktivistin gegen Mädchenbeschneidung Bella Glinski sagt: "Traditionen sind von Menschen gemacht. Und Menschen wie du und ich können diese Tradition auch wieder ändern!"

Über eintausend Frauen im Kanton St.Gallen betroffen

Man mag es kaum glauben. Und es ist für Menschen aus unserem Kulturkreis kaum vorstellbar, dass das globale Phänomen der Genitalverstümmelung oder Mädchenbeschneidung auch den Kanton St.Gallen und das Rheintal betrifft. Gemäss des Postulatsberichts des Bundesrates vom November 2020 sind kantonal zwischen 1000 und 1500 Frauen betroffen oder gefährdet. Damit ist der Kanton St. Gallen zusammen mit dem Kanton Genf an dritter Stelle in der ganzen Schweiz!

Durch das Buch «Wüstenblume» von Waris Dirie wurde die Genitalverstümmelung zum weltweiten Thema (Bild: kino.de) Bild: kino.de

«Genaue Zahlen für das Rheintal kenne ich nicht, aber es leben einige Frauen und Mädchen im Rheintal, welche betroffenen Communities angehören» so Chantale Beusch, Integrationsbeauftragte der Fachstelle Integration Rheintal, «es ist wichtig, dass man mit den Familien in Kontakt ist. Bei unserer Arbeit in den Communities geht es aber nicht nur um Prävention (obwohl das natürlich ein sehr wichtiger Teil ist), sondern auch um Information und Sensibilisierung. Es geht darum, Frauen zu ermutigen, über dieses Thema zu sprechen - innerhalb ihrer Familien, mit Freundinnen und dem Partner. Natürlich geht es auch darum, dass sich betroffene Frauen frühzeitig medizinische Beratung einholen, gerade etwa bei einem Kinderwunsch. Es ist zum Beispiel wichtig, dass Hebammen so früh wie möglich Bescheid wissen.»

Man tut es, weil man es immer getan hat

Welche «Communities» sind hier gemeint? Hauptsächlich Migranten aus ostafrikanischen Ländern, wie Somalia, wo die Genitalverstümmelung junger Mädchen ein alter Brauch ist. Ein Intitiationsritus, der den Übergang vom Kind zur jungen Frau markiert. Die häufigste zu findende Erklärung, warum dieser barbarische Vorgang in vielen Ländern immer noch praktiziert wird: Es ist Tradition. Man tut es, weil man es immer getan hat. Die Beschneidung symbolisiert das Bekenntnis zu Traditionen und Werten des Stammes und wird mit der gesellschaftlichen Anerkennung der Rolle als Frau belohnt. Vielerorts können sich die Frauen heute noch nicht vorstellen, dass es anders sein könnte. Sie kennen nur beschnittene Frauen.

Die Kinder vertrauen ihren Eltern und wissen nicht, was auf sie zukommt (Bild: sos-kinderdoerfer.de) Bild: sos-kinderdoerfer.de

Die Religion scheidet als Grund für die Beschneidung, die bei Muslimen, Christen, Juden und Animisten vorkommt, aus. Auch ökonomische Gründe spielen eine Rolle. In vielen Ethnien verlangt der Mann noch immer nach einer beschnittenen Frau, eine unbeschnittene Frau kommt oft nach wie vor nicht in Frage für eine Ehe. Um ihren Töchtern eine gesicherte Zukunft zu gewährleisten, unterziehen die Mütter ihre Mädchen somit dieser Praktik. Zudem ist die Familie angewiesen auf das Brautgeld, das sich nach dem Grad der Verstümmelung richtet. Andererseits ist das Beschneiden ein lukratives Geschäft, von dem die Beschneiderin wiederum ihre gesamte Familie ernährt und den Beruf meist nicht freiwillig aufgibt.

Gewissheit über die Herkunft der eigenen Nachkommen

Letztlich geht es aber um Macht über die weibliche Sexualität mit Hilfe der Beschneidung. Eine Sexualität, die nach Meinung vieler Männer um ein Vielfaches stärker ist, als ihre eigene. Es geht um die Kontrolle dieser und um die Gewissheit über die Herkunft der eigenen Nachkommen.

Ein grausamer und archaischer Brauch, eine Tradition, die hoffentlich bald Geschichte sein wird (Bild: welt.de) Bild: welt.de

In der westlichen Hemisphäre wurde das Thema der Mädchenbeschneidung durch das Buch «Wüstenblume» des Top-Models Waris Dirie. Es ist die faszinierende wahre Geschichte eines somalischen Mädchens, das als Kind durch die Hölle ging und später als internationales Top-Model Karriere machte. Es ist die Geschichte einer Befreiung. Vom Nomadenleben in der somalischen Wüste auf die teuersten Designer-Laufstege der Welt – ein Traum. Und ein Alptraum, denn Waris Dirie wurde im Alter von fünf Jahren Opfer dieses grausamen Rituals: Sie wurde beschnitten. Im Alter von 13 Jahren flüchtet sie vor der Zwangsverheiratung mit einem Mann, der ihr Großvater hätte sein können. In London wird sie schließlich als Model entdeckt – der Beginn einer märchenhaften Karriere.

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  • Waris Dirie, die Vorkämpferin gegen den archaischen Brauch der Mädchenbeschneidung hat es nach ihrer Flucht aus Somalia zum Top-Model gebracht (Bild: spiegel.de) Bild: spiegel.de
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Die Anlaufstelle gegen Mädchenbeschneidung Ostschweiz (www.anlaufstelle-fgm-ost.ch) und die Fachstellen Integration Rheintal und Werdenberg-Sarganserland haben zur Sensibilisierung für dieses Thema eine Online-Kampagne auf Facebook und Instagram in der vergangenen Woche initiiert und durchgeführt. Heute wurde dann auch ein Video zum Thema veröffentlicht.

gmh/uh