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Wirtschaft
12.08.2020

Phänomen Überwachungskapitalismus

Unsere elektronischen Helferlein verraten viel über unser Leben (Bild: shutterstock)
Unsere elektronischen Helferlein verraten viel über unser Leben (Bild: shutterstock) Bild: Shutterstock
Die ungebremste Digitalisierung hat ungeahnte wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Können wir die totale Überwachung noch stoppen?

Man erinnert sich kaum noch. Aber es gab eine Zeit, in der Google trotz breiter Nutzung als Suchmaschine finanzielle Probleme hatte. Zu Beginn des Jahrtausends platzte die Dotcom-Blase. Der Aktienwert der Suchmaschine schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Denn bis dahin hatten die Internetwerker aus Kalifornien ihre Daten tatsächlich nur konsumentenfreundlich für die Suche verwendet. In der Not gebar man die Idee, die Anfragen der Suchenden für die Verbesserung der Zielgruppengenauigkeit für Werbeeinschaltungen auszuwerten. Schnell wuchsen die Einnahmen.

 Sammlung freiwillig gelieferter Daten

2004 ging Google an die Börse. Und damit wurde dieses Modell erst so richtig bekannt. Damit war der Überwachungskapitalismus als Blaupause für die heutigen Internetgiganten installiert. Keine Softwareklitsche, keine App, kein Social Network, das seither nicht die ihm von seinen Kunden freiwillig gelieferten Daten sammelt. Kein Streamingdienst, kein Betreiber von Kommunikationsprogrammen, der diese Daten nicht auswertet oder – noch schlimmer – an Firmen verkauft, die unsere Mausklicks, Bestellungen, Kommentare und Fotos verarbeiten und auswerten. Wie das berüchtigte Unternehmen Cambridge Analytica, das mit den gewonnenen Daten den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 und die Brexit-Entscheidung der Briten massiv beeinflusste.

 Monatelang nervtötende Werbung

Haben Sie sich nicht schon gewundert, wenn Sie sich im Internet bei nur einer Firma nach einem bestimmten Produkt, sagen wir einmal einem Dampfreinigungsgerät erkundigt haben? Und noch wochen-, ja monatelang in beinahe alle Internetinhalte, die sie konsumieren immer wieder nervtötende Werbung für Dampfreiniger eingeblendet bekommen. Obwohl sie inzwischen schon lange ein solches Gerät erworben haben. Die Nutzer der grossen Datenautobahn, also wir User, scheinen einen Deal abgeschlossen zu haben. Dafür dass wir ein Suchergebnis einer Suchmaschine bekommen, dafür dass wir einen Inhalt von YouTube streamen dürfen, dafür dass wir auf WhatsApp oder Facebook mit unserem Freundeskreis kommunizieren, bezahlen wir mit unseren Daten. Freiwillig? Haben wir denn jemals ausdrücklich zugestimmt, dass unser Bewegungsprofil über unser Smartphone weitergegeben wird? Hat man uns denn je ausdrücklich gesagt, wozu die Supercard oder die Cumulus-Karte tatsächlich genutzt werden? Dass es dort nur ganz am Rande um Minirabatt und Kundenzufriedenheit geht, sondern dass über derartige Systeme gezielt unser Kaufverhalten ausspioniert wird?

 

Aldous Huxleys Vision von "Big Brother" ist inzwischen Alltag geworden (Bild: Shutterstock) Bild: Shutterstock

Überwachen, speichern und analysieren

Rund um die Uhr und rund um die Welt überwachen, speichern und analysieren die Daten-Kraken uns und unser Verhalten. Daraus erwachsen ungeahnte Geschäftsfelder. Diese Unternehmen wissen, was wir für Essensvorlieben haben. Sie wissen, mit wem wir Kontakt halten, welche Interessen wir haben und glauben sogar, unsere politische und religiöse Einstellung zu kennen. Die Basis für eine sich rasant entwickelnde neue Form der Wirtschaft. Denn neben dem Industriekapitalismus, der die Massenproduktion als industrielle Revolution einführte, hat sich der Überwachungskapitalismus als parallele Struktur verfestigt.

Rohform der Industriekapitalismus

Und genau so, wie die Rohform des Industriekapitalismus reguliert werden musste, also so wie durch Gesetze und gesellschaftlichen Konsens die Kinderarbeit, die Ausbeutung der Arbeiter und das Faktum, dass die Gewinne ausschliesslich ans Kapital gingen und nicht an die eingesetzte Arbeit, abgeschafft oder gemindert wurden, genau so muss auch der den Kindesbeinen entwachsende Überwachungskapitalismus gezähmt werden. Oder wie es Vordenkerin Shoshana Zuboff formuliert: „Wir als Gesellschaft entschieden damals, dass es so nicht weitergeht. Und wir müssen aktuell wieder etablieren, dass es nicht automatisch ein Anrecht auf jedermanns Daten gibt.“

Produktivität der Wirtschaft nicht wesentlich erhöht

In ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, erschienen im Verlag Campus, deckt sie auf, dass die Digitalisierung die Produktivität der Wirtschaft nicht wesentlich erhöht hat. Denn es geht beim Überwachungskapitalismus nicht um wirkliche Innovationen. Es geht um Prognosen, um Vorhersagen des individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens und darum, diese datenbasierte Kaffeesatzleserei teuer an Werbeagenturen, Parteien, aber auch an Banken und Versicherungen zu verkaufen. „Daraus entsteht nicht automatisch ein Mehrwert. Es ist der feige Weg, er wird nicht zu mehr Innovationen führen, die die Menschheit wirklich braucht.“ Die meisten Menschen wollen nicht, dass Unternehmen oder auch der Staat alles über sie wissen. Eigentlich will doch niemand den Überwachungskapitalismus. Aber sehr vielen scheint es egal zu sein, dass sie mit ihren freiwillig in das Internet eingespeisten Daten, Fotos, Videos, Konsumbestellungen usw. sich selbst zur Zielscheibe von Verkäufern, Konzernen, aber auch von Mobbern und idiotischen Hackern machen.

Drei Gesetze für das digitale Zeitalter

 Shoshana Zuboff hat schon vor drei Jahrzehnten (!) in ihrem Buch „In the Age of the Smart Machine: the future of work and power“ drei Gesetze für das digitale Zeitalter postuliert: Alles was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Alles, was man in Daten umsetzen kann, wird in Daten umgewandelt. Alles, was der Überwachung dienen und Kontrolle ausüben kann, wird auch genau dafür verwendet werden. Vor dreissig Jahren eine mutige Prophezeiung, die sich heute in Realität verwandelt hat. Höchste Zeit, gegen diese Praktiken durch Regulierungen anzukämpfen. Höchste Zeit, den Überwachungskapitalismus in vernünftigem Rahmen wieder einzufangen. Höchste Zeit, den rechtsfreien Raum, der Google und Facebook ja so erfolgreich gemacht hat, mit vernünftigen Regeln wieder aufzufüllen. Und höchste Zeit, den Usern wieder die Hoheit über ihre persönlichen Daten zurückzugeben.

 

gh/uh
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